Analyse
Grunds?tzlich k?nnen sich alle Akteure auf dem Markt verschulden: Unternehmen, Privathaushalte und Staaten. Dabei ist zu bedenken, dass Schulden immer Guthaben in gleicher H?he gegen?berstehen.
In den letzten Jahren stieg die Verschuldung auf allen Ebenen massiv. So erstaunt es nicht, dass sich z.B. die deutschen Unternehmensschulden von 1960 bis 1990 mehr als verzw?lffachten und bis 1998 sogar verdreiundzwanzigfachten (Hannich 2002:58). Damit wuchs die Verschuldung der Wirtschaft beinahe doppelt so schnell wie die Produktivit?t (Hannich 2002:58). Entsprechend ergaben Untersuchungen der deutschen Bundesbank, dass von 1985 bis 1990 82% der konkurs gehenden Betriebe eine Eigenkapitaldecke von weniger als 10% hatten, d.h. eine Fremdkapitalquote von ?ber 90% aufwiesen (Hannich 2002:60).
Die zunehmende Unternehmensverschuldung bewirkte, dass die Unternehmen immer weniger flexibel auf Nachfrageeinbr?che reagieren und damit kurzfristige Produktionseinbr?che aus eigenen Reserven kompensieren konnten. Das f?hrte bei Nachfrager?ckg?ngen schneller zu Entlassungen, wodurch die Kaufkraft der privaten haushalte sank und ? teilweise ? deren Verschuldung stieg.
Schulden f?hren immer dazu, dass die finanziellen Handlungsfreir?ume abnehmen, weil grosse Ressourcen durch den Schuldendienst gebunden sind. Laut Berechnungen von Saskia Sassen von der Columbia-University (vgl. Berger/Schmauder in Humane Wirtschaft Sept./Okt 2009:11) belief sich der Wert der finanziellen Assets ? also der Schulden ? im September 2008, also zu Beginn der Finanzkrise ? auf 160 Billionen Dollar. Damit waren sie bereits damals ? je nach Sch?tzung des weltweiten Bruttoinlandprodukts ? 2,7 bis 3,5mal so hoch wie das gesamte Bruttoinlandprodukt der Erde. Wenn man sich vor Augen h?lt, dass jeder Schuld ein gleich hohes Guthaben gegen?ber steht, dann kann man erahnen, welche unvorstellbaren Reicht?mer bei einigen wenigen Institutionen und Menschen liegen m?ssen.
Jahrzehntelang haben Anh?nger der Freihandels und der Globalisierung behauptet, dass die Auswirkungen der Globalisierung vorwiegend positiv seien. Dabei wurde jedoch vergessen, dass in Folge der Globalisierung und des damit verbunden internationalen Wettbewerbs immer mehr soziale Kosten ? z.B. Sozialversicherungen, Krankenversicherungen usw. ? vom Arbeitgeber und/oder vom Staat auf die Arbeitnehmer ?berw?lzt wurden, bei gleichzeitig wachsendem Druck auf die L?hne in den hoch entwickelten L?ndern. Es lohnte sich f?r die Unternehmer, ihre Produktion in Billiglohnl?nder auszulagern, in denen einerseits aufgrund der tiefen L?hne die direkten Lohnkosten viel geringer waren und anderseits infolge der schlechteren sozialen Absicherung auch Lohnnebenkosten bzw. die indirekten Lohnkosten massiv unter denjenigen der hoch entwickelten L?nder lagen. Somit lohnte sich die Auslagerung oft auch dann, wenn die L?hne im Niedriglohnland nach einigen Jahren anzogen ? besonders arbeitsintensive Firmen zogen dann einfach ins n?chste Niedriglohnland. Doch auch trotz Auslagerung der Produktion ins Ausland ist die Verschuldung der Unternehmen in den letzten Jahren massiv gestiegen. W?hrend zum Beispiel in Deutschland die Bruttol?hne seit 1950 ungef?hr linear stiegen, nahm die Unternehmensverschuldung massiv st?rker zu: Quelle: Hannich 2002:47.
So arbeitete 1995 das durchschnittliche deutsche Unternehmen nur noch mit 18% Eigenkapital. In anderen Branchen, zum Beispiel im Einzelhandel oder in der Bauindustrie betrug die Eigenkapitalquote sogar weniger al 5%. Dass damit einerseits enorme Abh?ngigkeiten von den Kreditgebern und anderseits ein hoher Kostendruck durch die Zinsen entsteht, versteht sich von selbst.
Parallel dazu stieg die private Verschuldung in den USA ? und nicht nur dort! - enorm: 1998 entsprach die private Verschuldung der US-Haushalte noch 63% des Bruttoinlandprodukts, 2007 waren es bereits 100% des Bruttoinlandprodukts. Sogar in Frankreich, wo die Banken sehr viel zur?ckhaltender agierten, nahm die Privatverschuldung ? die bis anhin mehr oder weniger stabil gewesen war - von 2000 bis 2007 von 34 auf 47,6% zu (Sapir in Le Monde Diplomatique M?rz 2009:8).
In den hoch industrialisierten L?ndern waren die Folgen verheerend: So stiegen etwa in den USA zwischen 2000 und 2007 die Pr?mien der Krankenversicherungen um 68% und die Bildungsaufwendungen um 46% (Sapir in Le Monde Diplomatique vom M?rz 2009:8). Weil viele Privathaushalte die Krankenkassenpr?mie und die (h?heren) Bildungskosten selber bezahlen m?ssen, stieg die Verschuldung der Privathaushalte massiv. Entsprechend stieg der Anteil der Bev?lkerung ohne Krankenkassen- und Sozialversicherungsschutz von 13,9 auf 15,6%. Dabei spielte der durch die Globalisierung erh?hte Druck auf die L?hne eine zentrale Rolle in dieser Entwicklung. So blieben in den USA die Reall?hne ?ber Jahre konstant oder gingen sogar zur?ck.
Doch auch die staatliche Verschuldung in den USA ist enorm. Ende 2007 wurden die Staatsschulden der USA bereits auf 14 Billionen Dollar gesch?tzt. Dazu kamen 2008 im Rahmen des Bankenrettungsprogramms weitere 8,5 Billionen Dollar (Chossudovsky in Zeit-Fragen vom 23.3.2009). Mitte 2009 wurde die staatliche Verschuldung der USA auf 80% ihres Bruttoinlandprodukts gesch?tzt. Absolut wiesen die USA 2009 eine Staatsverschuldung von 11,67 Billionen Dollar auf (vgl. Neue Z?rcher Zeitung vom 14.9.2009). Andere Quellen (vgl. Neue Z?rcher Zeitung vom 10.8.2009) sprachen Mitte 2009 von 14 Billionen ?ffentlichen und 38 Billionen privater Schulden in den USA. Die nicht unerhebliche Abweichung der einzelnen Sch?tzungen und Berechnungen der US-Staatsschulden von einander in der H?he von mehreren Billionen Dollar erkl?rt sich aus unterschiedlichen Berechnungsarten und Sch?tzungsmethoden.
Gemessen in Prozenten des Bruttoinlandprodukts ergibt sich f?r die USA folgendes Bild: Laut Research Affiliates beliefen sich Ende 2009 die Schulden der staatlichen und staatsnahen Einheiten auf 424% des Bruttoinlandprodukts. Davon waren 60% offizielle Staatsschulden, 81% Schulden anderer K?rperschaften und 283% ungedeckte Verpflichtungen. Ausserdem betrug die Verschuldung privater Haushalte 99% des Bruttoinlandprodukts und die Schulden aller Unternehmen 317% der BIP. Alles zusammengerechnet belief sich die Verschuldung in den USA auf volle 840% des Bruttoinlandprodukts (Neue Z?rcher Zeitung vom 14.12.2009).
Laut der Bank Sarasin (vgl. Neue Z?rcher Zeitung vom 14.9.2009) beliefen sich Mitte 2009 die Staatsschulden in Deutschland auf 85% des Bruttoinlandprodukts, in Frankreich auf 95% des Bruttoinlandprodukts, in Belgien auf 100% des Bruttoinlandprodukts, in Italien auf 123% des Bruttoinlandprodukts und in Japan sogar auf 190% des Bruttoinlandprodukts.
Der Internationale W?hrungsfonds bezifferte Mitte 2009 die Staatsverschuldung der 10 f?hrenden Industriel?nder auf 78% des Bruttoinlandprodukts. Bis 2014 ist laut IMF mit einer Verschuldung von 114% des Bruttoinlandprodukts dieser L?nder zu rechnen. Sollte sich die Wirtschaftskrise in die L?nge ziehen, k?nnte die Verschuldung laut W?hrungsfonds sogar 150% des Bruttoinlandprodukts erreichen (Neue Z?rcher Zeitung vom 27./28.6.2009).
Erschreckende Zahlen f?r die Gesamtverschuldung der Industriestaaten haben Marktanalytiker de Société Générale, basierend auf Analysen von Jagadeesh Gokhale vom National Center for Policy Analysis ausgerechnet: Danach ergibt sich f?r die EU-Staaten eine private und ?ffentliche Gesamtverschuldung von 500% des Bruttoinlandprodukts. Die Gesamtverschuldung der USA liegt sogar bei ungef?hr 600% des Bruttoinlandprodukts und Rekordhalter in Europa ist Griechenland mit rund 800% des Bruttoinlandprodukts (Neue Z?rcher Zeitung vom 15.2.2010).
Dies hat gravierende Folgen, insbesondere auch f?r die Wirtschaft. Untersuchungen von Carmen Reinhart, Wirtschaftsprofessorin an der Universit?t von Maryland,Chopard Replica und Kenneth Rogoff, Professor an der Harvard University, zu den Auswirkungen von Staatsschulden in den letzten beiden Jahrhunderten, haben ergeben, dass Staaten, deren Staatschulden 90% des Bruttoinlandprodukts ?berschreiten, ein deutlich tieferes Wirtschaftswachstum aufweisen als Staaten mit geringeren Schulden (Gratwohl in Schweizerische Handelszeitung vom 9.-15.6.2010:28). Die Wirtschaft von Staaten mit derartig hohen Staatsschulden w?chst im Schnitt 2% weniger als die Wirtschaft von L?ndern mit Staatsschulden von weniger als 30% des BIP.
Doch f?hrt die zunehmende Verschuldung unweigerlich zum Staatsbankrott? Eine ganze Reihe von ?konomen zweifelt daran.
So ist etwa das Beispiel Islands alles andere als eindeutig. Icesave, eine Internet-Ableger-Bank des isl?ndischen Landsbanki zog durch hohe Zinsen Spareinlagen von ausl?ndischen Sparern aus ganz Europa an. Der britische und der niederl?ndische Einlagensicherungsfonds zahlten am H?hepunkt der Finanzkrise die Sparer in ihren L?ndern aus. Beide L?nder verlangten nun vom isl?ndischen Einlagensicherungsfonds ? 20'887.- pro Sparer/in. Es ist umstritten, ob Island zur Zahlung dieser Einlagen verpflichtet ist oder nicht. Vier Experten des Ecofin-Rates kamen zum Schluss, dass Island verpflichtet sei, daf?r zu sorgen, dass sein Einlagensicherungsfonds ausreichend kapitalisiert sei, um die Sparer zu entsch?digen. Es ist aber unklar, ob Island verpflichtet ist, diese Einlagensicherung mit Steuergeldern zu garantieren. Vor der Krise der drei isl?ndischen Banken lagen die ?ffentlichen Schulden Islands im einstelligen Prozentbereich des Bruttoinlandprodukts. Als Folge der Bankenkrise sch?tze man die Schulden Islands auf 150% des Bruttoinlandprodukts (Waibel in Neue Z?rcher Zeitung vom 24.3.2010:35). Waibel wies darauf hin, dass die verschuldeten Banken und der isl?ndische Staat verschiedene Rechtspers?nlichkeiten sind. Daran ?ndert nichts, dass die drei Banken vom isl?ndischen Staat ?bernommen wurden. Waibel schreibt dazu: ?Bei den Finanzinstituten m?sste es sich um Organe des isl?ndischen Staates handeln, oder es m?sste eine enge Verbindung zwischen Staat und Banken vorliegen, wie zum Beispiel wenn Elemente staatlicher Hoheitsgewalt an Banken ?bertragen wurden. Aus der blossen Tatsache, dass der Fiskus Mehrheits- oder Alleineigent?mer einer Bank ist, folgt noch keine Zurechnung und damit Haftung des Staates. Im Normalfall ist lediglich die Bank nach dem anwendbaren innerstaatlichen Recht zur R?ckzahlung verpflichtet. Nur sie ist Vertragspartner? (Waibel in Neue Z?rcher Zeitung vom 24.3.2010:35). Anders liegt die Sache jedoch aus der Sicht des internationalen Investitionsschutzes. Viele Staaten haben bilaterale Investitionsschutzabkommen geschlossen, um Investoren vor der Enteignung zu sch?tzen. Der Investor kann sich direkt an internationale Schiedsgerichte wenden, um eine Entsch?digung in der H?he des Marktwerts der Investitionen zu erhalten. Das Problem liegt also weniger in der Verschuldung an sich, sondern wiederum in der einseitigen Bevorzugung der Kapital- und Geldgeber durch nationale und internationale Regelungen.
Jan Amrit Poser (in Neue Z?rcher Zeitung vom 25.3.2010:33) weist darauf hin, dass wie bei Hypotheken staatliche Schulden zu einem guten Teil gar nie zur?ckbezahlt werden m?ssen. Ausserdem k?nne ein Staat seine Schulden mit gleicher Geschwindigkeit steigen lassen wie sein Bruttoinlandprodukt: ?Solange der Schuldenstand, also das Verh?ltnis der Staatsschulden zum BIP in Prozentpunkten, mittelfristig nicht steigt, sondern abnimmt, befindet sich ein Staat auf einem nachhaltigen Schuldenpfad - egal, ob seine Schulden absolut steigen oder auch nicht? (Poser in Neue Z?rcher Zeitung vom 25.3.2010:33). Zur Beurteilung der Staatsfinanzen m?ssen diese in zwei Faktoren aufgeteilt werden: Der Hauptfaktor ist ?das strukturelle Prim?rdefizit, das heisst der zyklisch bereinigte Haushaltssaldo, den ein Land h?tte, wenn die Konjunktur sich wieder normalisierte? (Poser in Neue Z?rcher Zeitung vom 25.3.2010:33). Das strukturelle Prim?rdefizit sagt aus, wie stark sich die Regierung des Landes bem?ht, die Ausgaben einzuschr?nken und die Einnahmen zu erh?hen. Der zweite Faktor ist der fiskalpolitische Spielraum. Dieser besteht aus allen restlichen Faktoren, welche den Schuldenstand beeinflussen. ?Der finanzpolitische Spielraum errechnet sich aus dem nominellen Potenzialwachstum, multipliziert mit dem Schuldenstand, abz?glich der Zinszahlungen in Prozent des BIP? (Poser in Neue Z?rcher Zeitung vom 25.3.2010:33).
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