Für einkommensunabhängige Finanzierung der Gesundheitskosten, Abschaffung der Pro-Kopf-Prämien an die Krankenkassen und Übernahme der Pflegekosten durch den Staat
Buchhinweis – Neuerscheinung 2018:
Christian J. Jäggi:
Ernährung, Nahrungsmittelmärkte und Landwirtschaft
Ökonomische Fragestellungen vor dem Hintergrund der Globalisierung
Wiesbaden: Springer Gabler Verlag. 137 Seiten. ISBN 978-3-658-22268-0
Preis: ca. EURO 38.00, br., auch als eBook.
Zum Inhalt:
Ernährung wird heute vor allem unter ernährungstechnischen, medizinisch-gesundheitlichen oder weltanschaulichen Aspekten (z.B. Vegetarianismus, Veganismus usw.) diskutiert. Obwohl die Nahrungsmittelindustrie einen der wichtigsten Märkte darstellt, werden Fragen der Nahrungsmittelproduktion, der Landwirtschaft, des Nahrungsmittelhandels und der Biodiversität meist unter nationalen Vorzeichen diskutiert. Nicht nur auf Produzentenseite, sondern auch aus der Sicht der Konsumenten sind die Nahrungsmittelmärkte – obwohl immer noch national strukturiert – mehr und mehr zu globalen Märkten geworden, was sich etwa in der Entwicklung der Nahrungsmittelrohstoffpreise zeigt. Dazu kommt, dass große Nahrungsmittelkonzerne die Strategie verfolgen, die gesamten Wertschöpfungsketten im Landwirtschafts- und Nahrungsmittelbereich zu vereinheitlichen – wohlgemerkt unter ihrer Kontrolle.
Das Buch thematisiert ökonomische Fragen zur Nahrungsmittelproduktion, zur Landwirtschaft, zum Handel mit Nahrungsmitteln und zur Biodiversität. Dabei werden Alternativen zur traditionellen Landwirtschaft, zur Massentierhaltung, zum Verlust an biologischer Vielfalt diskutiert – und aus wirtschaftlicher Sicht reflektiert. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf Aspekten der Globalisierung.
Bestellungen bei creality@bluewin.ch, wir leiten Ihre Bestellung gerne an den Verlag weiter.
Analyse
Die Gesundheit ist ein besonderes Gut. Ein ausgebautes Gesundheitssystem erhöht nicht nur die wirtschaftliche Produktivität eines Landes, gute Gesundheit führt auch zu besser qualifizierten und motivierten Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt. Ausserdem besteht ein enger Zusammenhang zwischen einer gut ausgebauten Gesundheitsversorgung für alle und einer möglichst kleinen Einkommens-Schere zwischen den Reichsten und Ärmsten einer Bevölkerung.
Zweifellos wird die Nachfrage nach Gesundheitsprodukten und –dienstleistungen sowohl in aufstrebenden Gesellschaften wie China oder Indien (Nachholbedarf) als auch in zunehmend überalterten Gesellschaften wie in Japan oder Europa in den nächsten Jahren deutlich ansteigen.
Doch dabei stellt sich auch die Frage, wie die wachsende Nachfrage nach Gesundheitsprodukten und –dienstleistungen finanziert wird, und als Folge davon, ob sich der Gesundheitsmarkt mehr und mehr in einen hochtechnologischen – und teuren – Spezialistenmarkt und eine billige – und qualitativ bescheidene – Grundversorgung aufspaltet.
Dabei gibt es grosse Unterschiede zwischen den nationalen Gesundheitssystemen, nicht nur im Leistungsbereich, sondern vor allem auch bei der Finanzierung.
Wenn man zum Beispiel die Schweiz mit anderen Ländern vergleicht, fällt der hohe Anteil der Gesundheitskosten auf den die Schweizerinnen und Schweizer aus eigener Tasche bezahlen: Die Schweiz ist das OECD-Land, in welchem der direkte Anteil der Privathaushalte an die Gesundheitskosten am grössten ist: Schweizerinnen und Schweizer zahlten 2008 volle 31% der Gesundheitskosten aus eigener Tasche. Mehr zahlten einzig die Mexikaner (49%) und die Südkoreaner (35%; vgl. Schoch in Neue Zürcher Zeitung vom 26.10.2011).
2009 flossen in der Schweiz von den privaten Zahlungen an die Gesundheitskosten von insgesamt 19 Milliarden Franken 29% an Pflegeheime, 19% in zahnärztliche Behandlungen und 17% in andere ärztliche Behandlungen (Franchise, Selbstbehalt; vgl. Schoch in Neue Zürcher Zeitung vom 26.10.2011).
Auch gemessen an der Kaufkraft zahlen die Schweizer viel mehr als Menschen anderer Länder: So betrug der Anteil der privaten Gesundheitskosten an den persönlichen Konsumausgaben in der Schweiz 6,1%, während er in den USA nur gerade bei 2,9% und in Deutschland sogar nur bei 2% lag (Schoch in Neue Zürcher Zeitung vom 26.10.2011).
Doch nicht nur die Kosten, sondern auch die Qualität des Gesundheitssystems sind volkswirtschaftlich von Bedeutung. Als Qualitätskriterien gelten dabei – laut Kirchgässner/Gerritzen in Die Volkswirtschaft 4-2011:59 - unter anderem Umfang und Erreichbarkeit der Leistungen, Zugang zu Medikamenten sowie Rechte und Informationen der Patientinnen und Patienten.
In der Schweiz ist im Vergleich mit dem Ausland der Kostenanteil für die stationäre Behandlung sehr hoch (vgl. Kirchgässner/Gerritzen in Die Volkswirtschaft 4-2011:61).
Hauptgrund dafür ist die längere Verweildauer der Patienten im Spital. Ein weiterer Grund liegt möglicherweise in den im Vergleich zum Ausland kleineren Spitäler und damit verbunden in der grösseren Zahl der Spitäler in der Schweiz (Kirchgässner/Gerritzen in Die Volkswirtschaft 4-2011:60). Demgegenüber ist laut Kirchgässner/Gerritzen (in Die Volkswirtschaft 4-2011:61) der Anteil für Ausgaben für Medikamente pro Kopf und auch gemessen am Bruttoinlandprodukt in der Schweiz eher gering. Während die Preise für Originalmedikamente in der Schweiz – laut Kirchgässner/Gerritzen in Die Volkswirtschaft 4-2011:61 – nur wenig teurer sind als etwa in Deutschland, sind jedoch die Generika in der Schweiz massiv teurer als in anderen europäischen Ländern. Auch hinsichtlich der Kosten für die Langzeitpflege nimmt die Schweiz in der OECD einen Spitzenplatz ein. In keinem anderen der untersuchten Länder ist der private Anteil an die Langzeitpflege so hoch wie in der Schweiz: Er liegt bei vollen 60% (Kirchgässner/Gerritzen in Die Volkswirtschaft 4-2011:61). Laut Kirchgässner/Gerritzen (in Die Volkswirtschaft 4-2011:61) liegt das daran, dass dafür weder eine Sozialversicherung noch ein privates Versicherungsangebot besteht – wobei wahrscheinlich genauer wäre: ein bezahlbares privates Versicherungsangebot. Laut Kirchgässner/Gerritzen (in Die Volkswirtschaft 4-2011:61) dürfte sich zwar in Folge des am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Bundesgesetzes über die Neuordnung der Pflegefinanzierung der private Anteil an die Pflegekosten leicht verringern, aber er wird trotzdem der höchste aller OECD-Staaten bleiben.
Wie gesagt: Die Schweiz gehört zu den OECD-Mitgliedländern mit den höchsten Beiträgen der Versicherten für die Krankenvorsorge. Weil es keine Abstufung der Krankenkassenprämien nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit der Versicherten (Lohn) gibt, zahlen die Personen mit den kleinsten Einkommen – relativ – am meisten. Im Unterschied zu anderen Ländern zahlen die Betriebe nichts an die Krankenkassen, und der Beitritt zu einer Krankentaggeldversicherung, welche krankheitsverursachte Lohnausfälle abdecken soll, ist nach wie vor freiwillig. Ausserdem zahlen in der Regel die Arbeitnehmenden 50% an die Krankentaggeldversicherung (sofern vorhanden).
Gleichzeitig sind die Beiträge des Staates an die Krankenkassenkosten in den letzten Jahren zurück gegangen. Während der Staat in den 1970er Jahren noch 40% der Krankenkassenkosten trug, waren es 2008 nur noch 26,9% (Rodriguez in Le Monde Diplomatique vom Februar 2011). Zwischen 1996 und 2010 betrug der jährliche Anstieg der Krankenkassenprämien für Erwachsene mehr als 5% pro Jahr, deutlich mehr als die Inflation.
Seit Januar 2012 die Spitäler nicht mehr einfach durch die öffentliche Hand und die Versicherer finanziert. Die Spitäler erhalten Tages- und Fallpauschalen erhalten, was den Druck auf nicht rentable Angebote der Spitäler erheblich vergrössert. Nicht wenige fürchten, dass sich die Gesundheitsversorgung verschlechtern könnte und Patientinnen und Patienten zu früh nach Hause geschickt werden.
Mit der Ablehnung des Managed-Care-Modells durch die schweizerischen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger im Sommer 2012 ist im Gesundheitsbereich wieder alles offen. Das gibt die Chance, das schweizerische Gesundheitssystem und seine Finanzierung von Grund auf neu zu überdenken.
Ein immer grösseres Problem stellt die Finanzierung der Pflegekosten für hochbetagte Personen dar. Pflegeheimkosten von Fr. 10'000.- oder mehr im Monat sind keine Seltenheit mehr, und AHV-Rente, Pensionskassenrente und Ergänzungsleistungen decken nur einen Bruchteil davon ab. Dazu komt, dass Kantone und Gemeinden, aber auch die Krankenkassen zunehmend versuchen, ihren Beitrag an die Pflegekosten zu reduzieren. Mit anderen Worten: Die Pflegekosten drohen für die Hochbetagten und ihre Angehörigen unbezahlbar zu werden.
Lösungsansätze
Ein sozial und ökologisch ansprechendes Gesundheitswesen müsste folgende Kriterien erfüllen:
- Alle in der Schweiz wohnhaften Personen sollen Zugang zu einer flächendeckenden Gesundheitsvorsorge guter Qualität haben.
- Über eine grosszügig definierte Grundversorgung hinausgehende Leistungen – wie z.B: kosmetische Eingriffe, Geschlechtsumwandlungen, in-Vitro-Befruchtungen usw. – sollen von der Grundvorsorge ausgeschlossen werden und die entsprechenden Kosten sind vollständig von den Nachfragerinnen und Nachfragern zu tragen.
- Die Finanzierung der Gesundheitsvorsorge (Grundversorgung) zu höchstens 10% über direkte private Beiträge (Krankenassenprämien, Franchise, Selbstbehalt). Mindestens 90% der Kosten sollen entweder über direkte Staatsbeiträge (z.B. Steuern) oder über paritätische Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Beiträge an eine dafür zu schaffende Sozialversicherung erfolgen, die nicht nur die direkten Heilungskosten, sondern auch einen allfälligen Lohnausfall (Krankentaggeldversicherung) abdeckt. Auf jeden Fall soll die Finanzierung von mindestens 90% der Gesundheitskosten einkommens- und vermögensabhängig erfolgen, nicht über Pro-Kopf-Prämien.
- Eine Rationierung der Gesundheitsleistungen – etwa durch Begrenzung teurer Medikamente – ist abzulehnen, alle haben Anrecht auf die gleichen Leistungen, unabhängig von ihrem Einkommen.
- Alternative Therapieformen sind zu fördern.
- Alle Therapieformen – also sowohl schulmedizinische als auch darüber hinaus gehende alternative Therapieformen - sollen einem permanenten Wirksamkeitsmonitoring unterzogen werden.
Einen originellen Vorschlag hat Hans-Peter Studer (2010:68/69) gemacht. Er schlug vor, die Prämien der Versicherungsnehmenden zu splitten, und zwar in einen Solidaranteil, der wie bisher in den Risikotopf aller Versicherten fliessen sollte, und die andere Hälfte, die in ein persönliches, zweckgebundenes Gesundheitskonto fliessen sollte. Persönliche Gesundheitskosten würden zuerst aus diesem Gesundheitskonto beglichen, und erst wenn dieses Gesundheitskonto auf null wäre, würden die weiteren Behandlungskosten aus dem gemeinsamen Risikotopf aller Versicherten bezahlt – abzüglich einer Kostenselbstbeteiligung des Versicherten. Bei längerer Gesundheit und entsprechend hohem Stand des persönlichen Gesundheitskontos würde der Prämienanteil, der auf das persönliche Gesundheitskonto fliesst, schrittweise bis auf null sinken. Wenn man einmal davon absieht, dass die Kostenselbstbeteiligung immer noch unsozial ist und stark verringert oder gar aufgehoben werden sollte, scheint dieser Vorschlag durchaus diskutabel.
Angeführte Literatur
Die Volkswirtschaft
4-2011: Kirchgässner, Gebhard / Gerritzen, Berit: Leistungsfähigkeit und Effizienz: Das Gesundheitssystem der Schweiz im internationalen Vergleich.
Le Monde Diplomatique (deutsche Ausgabe)
Februar 2011: Rodriguez, Michaël: Das Schweizer Gesundheitssystem.
Neue Zürcher Zeitung
10.9.2011: Schoch, Claudia: Nagelprobe für das Parlament in der Gesundheitspolitik.
26.10.2011: Schoch, Claudia: Die Schweizer zahlen am meisten selbst. Die privaten Ausgaben für Gesundheitsleistungen im internationalen Vergleich.
Studer, Hans-Peter
2010: Gesundheitswesen als kosteneffizientes Solidarsystem mit Eigenverantwortung. In: Seidl, Irmi / Zahnt, Angelika (Hrsg.): Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft. Marburg: Metropolis-Verlag.