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Sozialversicherung

Soziale Sicherheit


Für ein flächendeckendes und existenzsicherndes System der sozialen Sicherheit verbunden mit unbezahlten Gegenleistungen aller zu Gunsten der Allgemeinheit

Analyse


Bestehende Systeme der sozialen Sicherheit können auf zwei Grundmodelle zurückgeführt werden: Das eine System geht auf Otto von Bismarck zurück: Er schuf in Deutschland zwischen 1883 und 1889 die gesetzliche Krankenversicherung, die Unfallversicherung und eine Altersversicherung. Ziel dieser Institutionen war vor allem, die Industriearbeiter vor Not zu schützen. Dabei wurde ein klarer Zusammenhang errichtet zwischen Beitrag und Anspruch auf Leistung. Einen anderen Weg ging der britische Ökonom und Sozialpolitiker Lord William Beveridge, der 1942 einen Plan vorlegte, der die Armut in Grossbritannien beseitigen sollte. Durch finanzielle Umverteilung sollte jeder Bürger ein ausreichendes Einkommen erhalten.

Weit weniger ehrgeizig sind heutige Versuche zur Existenzsicherung. In der Europäischen Union formulierten die Mitglied-Staaten Anfang der 1990er Jahre in der "Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer" eine Reihe von sozialen Grundrechten. Doch diese Charta ist lediglich eine Absichtserklärung, welche die Regierungen rechtlich nicht verpflichtet. Ausserdem gelten die darin formulierten Grundrechte nur für Angehörige der EU-Staaten. Allerdings sollen die arbeitsrechtlichen Bestimmungen und sozialen Absicherungen, also die Freizügigkeit, der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu selbständiger Tätigkeit, berufliche Ausbildung, soziale Sicherheit und das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung, auch auf Ausländerinnen und Ausländer aus Nicht-EU-Staaten Anwendung finden (vgl. dazu Ausländer im europäischen Binnenmarkt 1992:38/39).

In den USA wurde 1935 ein Sozialversicherungsgesetz verabschiedet, das jedem über 65 Jahre alten Amerikaner eine minimale Rente garantierte (Bonner/Wiggin 2006:236). Vier Jahre nach der „Old Age Insurance Provision“ folgte die Einführung der Witwen- und Waisenrente, der „Survivors Insurance“. Bis 2005 waren die Kosten der Sozialversicherungen und der der öffentlichen Krankenversicherungen in den USA auf 27% des Bundeshaushalts gestiegen (Bonner/Wiggin 2006:238). Im Jahr 2010 verabschiedete der Kongress auf Druck des amerikanischen Präsidenten Barak Obama ein Krankenversicherungsgesetz, das über 30 Millionen Amerikanern den Zugang zu einer Krankenversicherung garantierte.

Joop M. Roebroek und Erik Hogenboom (1990:12) unterschieden 1989 vier Typen bestehender Systeme sozialer Sicherheit bzw. vier dazu gehörende Staatengruppen in Europa:
1. Spanien, Portugal und Griechenland mit relativ unentwickelten Systemen der sozialen Sicherheit und schwachen nationalen Wirtschaften. In diesen Ländern war die Idee eines existenzsichernden Mindesteinkommens kaum ein Diskussionsthema.
2. Norwegen, Schweden und teilweise Finnland mit einer starken Arbeitsmarktpolitik und relativ tiefer Arbeitslosigkeit. Die enge Verknüpfung von Arbeit und Einkommen liess kaum eine Diskussion über ein existenzsicherndes Mindesteinkommen aufkommen.
3. Belgien, die alte Bundesrepublik, Frankreich, Österreich und in gewissem Sinn Italien - beizufügen wäre hier auch die Schweiz -, deren Systeme der sozialen Sicherheit nach dem Bismarckschen Modell organisiert sind. Mit Ausnahme Österreichs und der Schweiz wiesen diese Länder eine relativ hohe Arbeitslosenrate auf. In diesen Ländern ist die Debatte um ein Mindesteinkommen relativ neu.
4. Dänemark, Irland und Grossbritannien mit Regelungen der Sozialen Sicherheit, die mehr oder weniger in der Tradition von Beveridge stehen. In diesen Ländern wurde die Frage nach Existenzsicherung traditionellerweise weniger stark mit der Erwerbsarbeit verknüpft. Deshalb habe hier die Idee eines existenzsichernden Mindesteinkommens grössere Chancen.

In den letzten 10 Jahren rückte in vielen Ländern - auch in der Schweiz - die Frage des Missbrauchs von Sozialversicherungsleistungen ins Zentrum der Diskussion. Dabei wurde - teilweise zu Recht - kritisiert, dass nicht selten Personen in Tieflohnsegmenten finanziell deutlich schlechter gestellt sind als Personen, die Sozialversicherungsleistungen oder Sozialhilfe beziehen. Damit werde es attraktiver, von Sozialhilfe zu leben als selber arbeiten zu gehen. Während aber bürgerliche Parteien die Lösung dieser Problematik in der Senkung der Leistungen der Sozialversicherungen und der Sozialhilfe sehen, weisen gewerkschaftliche und linke Gruppen darauf hin, dass nicht zu hohe Zahlungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe das Problem sind, sondern die zu tiefen Löhne in einigen Bereichen.

So beschoss etwa die konservativ-liberale Regierung Grossbritanniens im Februar 2011, die verschiedenen staatlichen Hilfen und Zuschüsse durch einen so genannten Universal Credit zu ersetzen. Dabei sollten zusätzlich zur Sozialhilfe arbeitende Briten mindestens 35% des zusätzlichen Arbeitseinkommens behalten dürfen. So haben etwa in Grossbritannien 1,4 Millionen Langzeitarbeitslose - darunter 600'000 Schulabgängerinnen und -abgänger - in den letzten 10 Jahren nie gearbeitet. Rund 3,5 Millionen Britinnen und Briten leben heute von einer Invalidenrente. Laut dem britischen Sozialministerium sollen mit Hilfe der Umstellung auf den Univeral Credit rund 2,5 Millionen Personen bessere Verdienstmöglichkeiten erhalten und 1 Million Personen aus der Armut herausfinden (vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 18.2.2011). Ob das allerdings der Fall sein wird, muss die Zukunft zeigen.


Lösungsansätze

Das Denknetz, ein linker Think Tank in der Schweiz, hat vorgeschlagen, einige der bestehenden Sozialversicherungen anstelle des bisherigen Systems sozialer Sicherheit, das patchworkartig zusammengesetzt ist und erhebliche Löcher aufweist, zu einer allgemeine Erwerbsversicherung AEV zusammenzufassen und zu ergänzen (vgl. Gurny/Ringger 2009 und Surber in WochenZeitung vom 4. Juni 2009). Grundidee des vorgeschlagenen Versicherungsmodells ist die Beibehaltung der so genannten Pfadabhängigkeit: Die Arbeitslosenversicherung ALV, die Invalidenversicherung IV, die (bisher nicht obligatorische) Erwerbsausfallversicherung bei Krankheit (Krankentaggeldversicherung), den Erwerbsausfall bei Unfall (Betriebs- und Nichtbetriebsunfallversicherung), die Versicherung der Zivil- und Militärdienstleistenden (EO), die Mutterschaftsversicherung, die Ergänzungsleistungen im Invaliditätsfall (EO) und den Grossteil der Sozialhilfe werden zu einer so genannten allgemeinen Erwerbsversicherung AEV zusammengefasst. Die AEV würde alle mit der Erwerbstätigkeit verbundenen Risiken abdecken, nicht aber die Altersvorsorge und auch nicht die direkten Gesundheitskosten (Heilungs- und Pflegekosen gemäss UVG und KVG).

Dieser allgemeinen Erwerbsversicherung sollen laut Denknetz alle Menschen im erwerbsfähigen Alter angehören – und im Unterschied zur heutigen Arbeitslosenversicherung auch die Selbständigerwerbenden. Bei einem vorübergehenden Erwerbsausfall bezahlt die Versicherung 70% des letzten Lohnes und bei Personen, die Kinder oder Jugendliche betreuen, 80%. Die Bezugsdauer der Taggelder wäre – im Unterschied zur bestehenden Arbeitslosenversicherung – für alle Personen, die seit mindestens fünf Jahren in der Schweiz Wohnsitz haben, zeitlich unbegrenzt (Gurny/Ringger 2009:18). Bei dauerhaftem Erwerbsausfall würden Renten ausgerichtet.

Dadurch entfielen die langen Wartefristen (IV!) von heute und die Betroffenen könnten nicht mehr jahrelang zwischen den Sozialversicherungen hin- und hergeschoben werden. Bestehende Lücken – wie die fehlende obligatorische Krankentaggeldversicherung oder die Versicherung von Selbständigerwerbenden gegen Arbeitslosigkeit – würden geschlossen. Auch der Wegfall des Anrechts auf Kinder- und Ausbildungszulagen nach Ablauf der Leistungen der Arbeitslosenversicherung wäre aufgehoben. Gleichzeitig könnte die heute überbeanspruchte Sozialhilfe auf eine ergänzende Funktion reduziert werden, und zwar für Betroffene, deren Taggelder oder Rente das Existenzminimum nicht abdecken.

Die allgemeine Erwerbsversicherung würde in ihre Leistungspalette Ergänzungsleistungen für Familien integrieren. Dies ist deshalb notwendig, weil Kinder immer noch eines der grössten Armutsrisiken in der Schweiz bedeuten. Die Ergänzungsleistungen für Familien besteht aus zwei Teilen: Einerseits Ergänzungsleistungen für Haushalte mit Kindern bis zum 3. Geburtstag für Einkommen unter dem Existenzminimum, und anderseits aus Familienergänzungsleistungen für Kinder von 0 – 16 Jahren in einkommensschwachen Familien. Damit wird der Fehlbetrag zwischen den anrechenbaren Einnahmen und den anrechenbaren Ausgaben gemäss dem Gesetz zu den Ergänzungsleistungen zu AHV/IV abgedeckt, der jedoch höchstens dem Maximalbetrag der (hypothetischen) Kinderkosten entspricht. Damit soll der minimale Lebensbedarf von Kindern und Jugendlichen gesichert werden (nicht jedoch die Unterhaltskosten der Eltern) (Gurny/Ringger 2009:27).

Neu wären auch selbständig Erwerbende obligatorisch in der AEV gegen alle genannten Risiken – und gegen Erwerbslosigkeit – versichert (Gurny/Ringger 2009:19).

Schliesslich würde in der allgemeinen Erwerbsversicherung auch die bis jetzt kantonal unterschiedlich geregelte Sozialhilfe vereinheitlicht und teilweise ersetzt. Dadurch könnten vor allem finanzschwache Gemeinden Geld sparen und gleichzeitig die heute bestehenden lokalen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in der Sozialhilfepraxis verringern.

Finanziert werden soll die AEV über Steuern und über Arbeitgeber- sowie Arbeitnehmerbeiträge: Die Integration der Krankentaggelder wird über zusätzliche Lohnprozente finanziert, und die selbständig Erwerbenden leisten neu Versicherungsbeiträge auf der Basis des versteuerten Reineinkommens. Die übrigen von uns vorgeschlagenen Leistungsverbesserungen und
–ausweitungen werden durch eine verbesserte Effizienz und durch zusätzliche Steuermittel finanziert“ (Gurny/Ringger 2009:20). Dabei folgen die Geldleistungen dem von der AGV bekannten Mischindex, wobei Lohnprozente und Steuerbeiträge den Leistungen laufend angepasst werden.

Zur Frage der Finanzierung hat das Denknetz folgende Berechnung angestellt: Zurzeit (2009) kostet die Altersvorsorge 70 Milliarden Franken, die Gesundheitsvorsorge rund 30 Milliarden Franken und die vorgeschlagene Allgemeine Erwerbsversicherung ebenfalls 30 Milliarden Franken. Die zusätzlichen Kosten der AEV würden 2,66 Milliarden Franken betragen. Demgegenüber würde der Staat an anderer Stelle 1,83 Milliarden Franken einsparen. Die Mehrkosten lägen also bei 830 Millionen Franken. Die AEV sollte je hälftig über Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge von 3,71 Lohnprozenten finanziert werden. Weil diese Beiträge neu auf alle Lohneinkommen erhoben würden, ergäbe dies zusätzliche Einnahmen von 900 Millionen Franken. Damit wäre die AEV solide finanziert.

Uns scheint, dass die Idee einer AEV in die richtige Richtung zielt, indem eine Vielzahl von Sozialversicherungen zu einer zusammengefasst werden. Aber das Modell ist nur ein erster, vorläufiger Schritt in Richtung einer flächendeckenden Existenzsicherung. Problematisch an der vorgeschlagenen AEV ist auf der einen Seite, dass das Kausalitätsprinzip in den drei Bereichen Arbeit, Alter und Gesundheit aufrecht erhalten bleibt. Auf der anderen Seite muss man sich fragen, ob längerfristig angesichts der auseinander klaffenden Lohnschere zwischen kleinen und grossen Einkommen ein linearer Prämienanteil von je 50% Arbeitnehmer und Arbeitgeber gerecht ist. Eine nach Einkommenshöhe progressiv steigender Arbeitgeberanteil wäre zumindest wünschenswert.

Unseres Erachtens ergeben sich folgende vorläufigen Forderungen:
Grundsätzlich sollte das System der sozialen Sicherheit vereinheitlich werden, und zwar sowohl auf der Leistungs- wie auch auf der Abgabenseite. Ein optimales System sozialer Sicherheit sollte allen Menschen ein Mindesteinkommen garantieren, unabhängig davon, weshalb sie keine Erwerbsarbeit finden. Gleichzeitig sollte das System der Sozialen Sicherheit auch die Lebensphase nach der Pensionierung abdecken.
Die Sozialversicherungen sollten allen Menschen einen Minimal-Lebensstandard sichern, wobei in einem demokratischen Aushandelungsprozess festgelegt werden muss, was als (untere) Grenze dieses Minimal-Lebensstandards gilt.
Das Kausalprinzip bei der Bemessung des Anspruchs sollte gänzlich fallen gelassen werden.
Auf der anderen Seite sollte definiert werden, welche Gegen-Leistungen die Gesellschaft vom Einzelnen erwarten kann und muss, also welches Mass an Arbeit – egal ob bezahlte Erwerbsarbeit, unbezahlte Familienarbeit, ehrenamtliche Tätigkeit oder andere Dienstleistungen an die Öffentlichkeit (z.B. politisches Amt, Sozialdienst, Militärdienst usw.). Alle diese Tätigkeiten sind dabei zu berücksichtigen, im Sinne einer Gesamt-Arbeitsbilanz eines und einer jeden einzelnen.


Angeführte Literatur
Ausländer im europäischen Binnenmarkt
1992: Kirchliche Perspektiven. Hrsg. durch die Europäische Konferenz Justitia et Pax und durch den Ausschuss der Kirchen für Ausländerfragen in Europa. Frankfurt/Main: Verlag Otto Lembeck.
Bonner, Bill / Wiggin, Addison
2006: Das Schuldenimperium. Vom Niedergang des amerikanischen Weltreichs und der Entstehung einer globalen Finanzkrise. München: Riemann Verlag.
Gurny, Ruth / Ringger, Beat
2009: Die grosse Reform. Die Schaffung einer allgemeinen Erwerbsversicherung AEV. Zürich: Edition 8.
Neue Zürcher Zeitung
18.2.2011: Rásonyi, Peter: Tiefgreifende britische Sozialreform.
Roebroek, Joop M. / Hogenboom, Erik
1990: Basic Income. Alternative Benefit of a New Paradigm for Social Welfare. Background Paper for the European Conference on Basic Incomes. 15 - 17 November 1989. Antwerpen: Basic
Income European Network BIEN.
WochenZeitung
4.6.2009: Surber, Kaspar: Alles in einem.

Weiterführende Texte
Jäggi, Christian J.
2012: Neues System sozialer Sicherheit. LE V39. Meggen: Inter-Active. 37 Seiten.
Bezugsadresse: creality@bluewin.ch.

 
 
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